Zur Aktualität von Lothar Kreyssig heute.

Impuls anlässlich seines 125. Geburtstages von Joachim Garstecki

Heute wissen wir fast alles über Lothar Kreyssigs Leben, sein Wirken für die Menschen in der Kriegs- und Nachkriegszeit, seinen Einsatz für Recht und Gerechtigkeit, für Versöhnung und Frieden.

Aber was wissen wir über die gestaltenden Antriebe und verbindenden Motive, die hinter den vielen Aktivitäten von Lothar Kreyssig stehen? Ich erkenne da drei wiederkehrende Grundmuster.

 

1. Die Wirklichkeit beim Namen nennen: Sagen, was ist. 

Ob als Vormundschaftsrichter während der NS-Zeit in Brandenburg im Widerstand gegen die Vernichtung sogenannten „lebensunwerten Lebens“ durch den NS-Staat 1940, als Landwirt, Konsistorialpräsident und Synoden-Präses der Evangelischen Kirche in Magdeburg ab 1950 gegen die Zwangskollektivierung der DDR-Landwirtschaft oder als Anwalt für Versöhnung und Frieden bei der Gründung der Aktion Sühnezeichen 1958  -  der Jurist und bekennende Christ Lothar Kreyssig reagiert zeitlebens mit einer beispielhaften Hellhörigkeit auf die gesellschaftlichen und politischen Signale seiner Zeit. Er sagt stets, „was Sache ist“, redet nicht um den heißen Brei herum, nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn es um die Aufdeckung von Unrecht und Ungerechtigkeit geht. Der gläubige Christ Kreyssig will „Rechenschaft geben von der Hoffnung, die in euch ist“ (1 Petr 3,15). Hören auf Gottes Wort führt ihn unmittelbar in die Übernahme sozialethischer Verantwortung. Kirche ist für Kreyssig vor allem „Kirche für andere“, für die Angelegenheiten dieser Welt.

Beispielhaft wird das sichtbar im Gründungsdokument der Aktion Sühnezeichen „Wir bitten um Frieden“ vom April 1958. Dort formuliert Lothar Kreyssig - mitten im Kalten Krieg - Grundzüge für den bis heute gültigen Umgang mit deutscher Schuld gegenüber den Juden und den europäischen Nachbarn. „Sagen, was ist“ ist in diesem hochsensiblen Themenfeld für Kreyssig Ausgangspunkt für die Übernahme von Verantwortung: „Wir haben vornehmlich darum noch immer keinen Frieden, weil zu wenig Versöhnung geschieht…“. Er setzt damit Maßstäbe für die deutsche Erinnerungskultur der Nachkriegszeit. Das wird beglaubigt durch das zeichenhafte Handeln von ca. 7.500 Freiwilligen, die ab 1959 in Projekten von Aktion Sühnezeichen in 14 Ländern Europas Versöhnungsdienst geleistet haben und leisten. Wahrheit, Ehrlichkeit und Demut des Sprechens sind die einzige Währung, die zählt. Was wir stattdessen in den vergangenen Tagen aus Bayern über den Umgang mit dem widerlichen antisemitischen Hetz-Flugblatt hören, ist ein nicht mehr für möglich gehaltener Rückfall in die Unbußfertigkeit der Täter. Die halbherzige Distanzierung des vermuteten Urhebers schrumpft zusammen auf eine abgenötigte, lauwarme Entschuldigung, „Gefühle verletzt“ zu haben. Schlimmer kann ein deutscher Politiker die Shoah-Opfer und die überlebenden Jüdinnen und Juden im heutigen Deutschland nicht desavouieren.

 

 2. Den eigenen Visionen trauen

Von Helmut Schmidt ist der Satz überliefert, wer Visionen habe, solle zum Arzt gehen. Lothar Kreyssig hätte gegen diese Auffassung protestiert. Er war ein Mensch, für den eine Vision zu haben der Ausgangspunkt, ja die unerlässliche Bedingung für jegliche Veränderung war. Es ging ihm darum, aktiv für die Verwirklichung seiner Visionen zu arbeiten und Menschen dafür zu begeistern. Die Aktion Sühnezeichen ist der höchst lebendige Beweis dafür.

1954 reist Kreyssig als Delegierter mit einer ehrgeizigen Vision zur Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen nach Evanston in den USA: Er will die Kirchen der Welt für seine Idee einer ökumenischen Mobilmachung gegen den Hunger in der Welt und gegen die ungerechte Verteilung der wirtschaftlichen Ressourcen gewinnen. Sogar den Vatikan will er mit ins Boot holen. Doch der visionäre Initiator scheitert auf der ganzen Linie. Dennoch gibt er nicht auf. „In getroster Verzweiflung“, aber unverdrossen sucht er sein Ziel in bescheidenerer Münze umzusetzen. 1957 ruft er in Berlin die „Aktionsgemeinschaft für die Hungernden“ ins Leben,  eine frühe Initiative ökumenischer Solidarität zugunsten der Notleidenden dieser Welt. 1959 wird Kreyssig Mit-Begründer der Aktion „Brot für die Welt“ und des Bischöflichen Hilfswerkes MISEREOR. Er „bleibt dran“ an seiner Vision. Eine mit den Armen solidarische Kirche bleibt für ihn eine lebenslange Herausforderung.

Visionen können sehr wirkmächtig sein, gerade wenn sie sich nicht auf Anhieb bewahrheiten lassen. Es kommt darauf an, ihnen auch gegen Widerstände und Rückschläge treu zu bleiben. Ist die biblische Vision „Schwerter zu Pflugscharen (Micha 4,3), die ab 1980/81 zum mobilisierenden, weltweit verbreiteten  Symbol der christlichen Friedensbewegung in der DDR wurde, zum Scheitern verurteilt, weil inzwischen in Europa ein blutiger Krieg geführt wird? Hat sie ihre Plausibilität, ihre Faszination verloren, weil Russland seit Februar 2022 einen völkerrechts-widrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt und die Ukraine ihre Souveränität als souveräner Staat mit Waffengewalt verteidigen muss? Bedeutet die Ausrufung einer „Zeitenwende“ durch den deutschen Bundeskanzler vom März 2022, dass wir unsere Überzeugung vom Vorrang gewaltfreier politischer Konfliktlösungen nun vergessen müssen, weil es ab jetzt ausschließlich auf militärische Mittel und Fähigkeiten, alimentiert mit 100 Milliarden Euro, ankommt? Dann wäre die Vision „Schwerter zu Pflugscharen“ als Illusion entlarvt, als schönes Traumbild, und als „Zukunftsentwurf“ (DUDEN, 2010) untauglich.

Lothar Kreyssig, der realistische Visionär, würde uns vermutlich Beine machen und darauf insistieren, gerade im Angesicht des Krieges die Vision „Schwerter zu Pflugscharen“ als Zukunfts- und Hoffnungs-Bild  hochzuhalten, weil von ihr auch gegen allen Anschein  eine große Kraft ausgeht: Sie kann helfen, Krieg und Gewalt zu überwinden, um wieder Spielräume für Frieden zu gewinnen. Zeigen nicht gerade die Schrecken des Krieges, wie dringend notwendig die Rückkehr zu einer Logik des Friedens ist? Wie kommen wir raus aus der herrschenden Kriegslogik, die immer selbstzerstörerischer wird, und wieder rein eine politische Friedenslogik, und wie müsste die aussehen, damit sie wenigstens in Ansätzen etwas von der Vision „Schwerter zu Pflugscharen“ erahnen lässt? Mit dieser Frage lässt uns Lothar Kreyssig allerdings allein.      

 

3. Die befreiende Tat: „…aber man kann es einfach tun“

Kaum ein anderer Satz von Lothar Kreyssig wird so oft zitiert, ist so berühmt geworden wie die Begründung seiner Entscheidung von 1958 für die Gründung von Aktion Sühnezeichen: „Dass unbewältigte Gegenwart an unbewältigter Vergangenheit krankt, dass am Ende Frieden nicht ohne Versöhnung werden kann, das ist weder rechtlich noch programmatisch darzustellen, aber man kann es einfach tun.“ Kreyssig hat Versöhnung nicht proklamiert, sondern er war überzeugt, dass Versöhnung geschehen muss, und dass sie nur durch aktives veränderndes Handeln geschieht. Deshalb sprach er von Aktion Sühnezeichen“ und mobilisierte junge Menschen, durch aktive körperliche Arbeit an Orten deutscher Kriegsverbrechen in Europa tätige Zeichen ihres Versöhnungswillens zu geben.

Das Ziel aktiven praktischen Handelns beseelte Kreyssig auch bei der Gründung der „Aktionsgemeinschaft für die Hungernden“. Mit dem Verzicht auf eine Mahlzeit pro Woche sollten Menschen in Deutschland ein Zeichen der Solidarität mit den Hungernden dieser Welt geben und den Gegenwert als Spende in den Kampf gegen den Hunger einsetzen. Geradezu legendär geworden ist der Satz, mit dem Kreyssig das Grund-Prinzip aller seiner sozial-diakonischen Aktivitäten auf den Punkt bringt: “Das Gesetz, nach dem wir angetreten sind, ist der Primat der Tat.“

Man muss gar nicht die derzeitige öffentliche Kommunikation über politische Fragen allgemein oder über die Realisierung politischer oder gesellschaftlicher Projekte in Deutschland genauer analysieren, um festzustellen, dass ihr der „Primat der Tat“ offensichtlich weitgehend abhandengekommen ist. Es dominieren Absichtserklärungen, Ankündigungen und Ausweichmanöver im Konjunktiv, kaum Botschaften über tatsächlich praktiziertes politisches Handeln. Der „Primat der Tat“ verschwindet hinter einem Wust von Schwierigkeiten, Hindernissen, Ausreden und Vertröstungen, die das tatsächliche Handeln ersetzen. Von Kreyssig heute in Gesellschaft und Politik zu lernen würde heißen, endlich konkret zu werden, endlich „zur Sache“ zu kommen und tatsächlich ein gutes Konzept vom Kopf auf die Füße zu bringen. Der „Primat der Tat“ ist neu zu entdecken.  

Leider findet sich der Name Lothar Kreyssig nicht  unter den „Helden der Nachkriegsjahrzehnte“, die der Publizist und Redakteur Heribert Prantl  in seinem Buch „Was ein Einzelner vermag. Politische Zeitgeschichten“ (SZ, München 2016) versammelt hat. Schade, mit seinem Charisma und seinem visionären Realismus hätte Lothar Kreyssig dort nicht fehlen dürfen.

 

Joachim Garstecki, Dipl.-Theol.                                                                                         

7. September 2023